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Soziotechnisches System

Perspektive zur Gestaltung von Interaktionsarbeit: Das soziotechnische System

Die folgenden Ausführungen beruhen auf der Perspektive, die Ansprüche an eine effiziente und produktive Leistungserbringung mit denen einer humanorientierten Gestaltung der Arbeit in Produktions- und Servicebereichen zu verbinden. Die Realisation einer solchen Gestaltungsstrategie ist kein Selbstläufer und erfordert einen ganzheitlichen und strategisch angelegten Gestaltungsansatz und eine daran orientierte Umsetzung. Mit Blick auf neue Anforderungen, die aus Digitalisierung, Industrie 4.0 oder KI resultieren, bedeutet dies die Einbettung der neuen Technologien in ihre sozialen, organisatorischen und spezifischen betrieblichen Einsatzbedingungen. Diese Verknüpfung ist die Voraussetzung dafür, dass die vielfach prognostizierten Produktivitäts- und Wachstumsgewinne realisiert werden können und gleichzeitig die „vielfältige(n) Möglichkeiten für eine humanorientierte Gestaltung der Arbeitsorganisation“ (Wissenschaftlicher Beirat 2014) genutzt werden.

  • Im Kern dieser Gestaltungsperspektive steht die Annahme, dass sich markt- oder kundeninduzierte Anpassungsprozesse nicht allein auf technologischem Wege erreichen lassen (z.B. durch Automation oder die Nutzung von Assistenzsystemen), sondern komplementäre Anpassungen in den Dimensionen Organisation und Mensch erfordern: Komplementarität meint dabei, dass situationsabhängig die spezifischen Stärken und Schwächen analysiert und eine Funktionsteilung zwischen Mensch, Organisation und Maschine entworfen wird, die eine störungsfreie und effiziente Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems ermöglicht (Grote 2015; Brynjolfsson/McAfee 2014). D.h., die Veränderungen und Anpassungsmaßnahmen beziehen sich neben Technik auf Organisationsstrukturen, Arbeitsprozesse und soziale Beziehungen im Betrieb und somit auf eine aufeinander abgestimmte Gestaltung der interdependenten Parameter des Gesamtsystems. Dies umfasst u.a. neue, dezentrale Strukturen, neue Geschäftsmodelle, agile Methoden oder Digital Management ebenso wie neue Qualifikationen und Kompetenzen, autonome Teams und innovative Partizipationsmodelle. Das Zusammenspiel dieser Faktoren bestimmt letztlich nicht nur den ökonomischen Erfolg, sondern insbesondere auch die Akzeptanz der Beschäftigten und betriebskulturelle Einbettung der modernen, digital gestützten Arbeits- und Produktionsabläufe.
  • Im gegenwärtigen Diskurs der Digitalisierung und des Wandels von Arbeit wird häufig auf das Gestaltungskonzept des Soziotechnischen Systems (STS) zurückgegriffen (Schüpbach 2007). Im Mittelpunkt steht die Erkenntnis, dass die Technik bzw. Technologie nicht die anderen Subsysteme determiniert, sondern dass Technik, Organisation und Mensch sich wechselseitig beeinflussen. In Anlehnung an Rice (1963) kann unter einem soziotechnischen System eine abgegrenzte Produktionseinheit verstanden werden, die aus interdependenten technologischen, organisatorischen und personellen Teilsystemen besteht. In der arbeitssoziologischen Forschung spielen vor allem die Arbeiten des Tavistock-Instituts zu den „sozialen“ Elementen eines Produktionsprozesses eine einflussreiche Rolle (Trist/Bamforth 1951; Trist 1981). Ihnen zu Folge geht es nicht um die Frage eines „entweder Technik oder Mensch“, sondern um die komplementäre Gestaltung der einzelnen Systemelemente zu einem aufeinander abgestimmten soziotechnischen Gesamtsystem (Trist 1981; Mumford 2006).

Der soziotechnische Ansatz verspricht eine nützliche Heuristik, die durch ihre Verschränkung der drei Subsysteme auf die gegenseitigen Abhängigkeiten von Technik, Organisation und Personal verweist und somit Gestaltungsalternativen für die betrieblichen Akteure eröffnet. Das ursprüngliche Konzept ist angesichts der Besonderheiten der neuen digitalen Technologien weiterentwickelt worden (z.B. Ittermann et al. 2016; Leonardi 2012). Das Augenmerk muss sich genauer auf die Schnittstellen richten, denn es geht nicht um die jeweilige Gestaltung der einzelnen soziotechnischen Teilsysteme, sondern um die Wechselwirkung und die Kombination der Elemente (Hirsch-Kreinsen et al. 2018). Im Fokus steht „das Ziel einer aufeinander abgestimmten Gestaltung des sozio-technischen Gesamtsystems“ (Hirsch-Kreinsen/ten Hompel 2016: 6) vor dem Hintergrund genereller Rahmenvorgaben und Kontextbedingungen. (Wettbewerbssituation im Technischen Service, Digitalisierung)

Folgt man dieser Perspektive, so rücken die Interdependenzen von Technik, Mensch und Organisation in den Mittelpunkt.

Abb. 1: Digitalisierung und soziotechnisches System (nach Hirsch-Kreinsen/Ittermann 2021)

Schnittstelle Technologie – Mensch

In der Perspektive der Mensch-Technik-Interaktion geht es um Fragen nach der „verteilten Handlungsträgerschaft“ (Rammert/Schulz-Schaeffer 2002) zwischen dem technologischen Teilsystem und dem menschlichem Arbeitshandeln und nach der Zuordnung von Funktionen, Aufgaben und Entscheidungen zwischen Technik und Mensch (vgl. Weyer 2006). M.a.W.: Was entscheidet der Mensch? Was entscheidet die digitale Technik? Zum einen geht es um die grundlegende Frage der Substitution von Arbeit durch Technikeinsatz. Zum anderen steht hinsichtlich der Aufgaben- und Kontrollverteilung die Frage in Zentrum, „inwieweit die Beschäftigten unmittelbar am System überhaupt in der Lage sind, diese zu kontrollieren und damit die Verantwortung über den Systembetrieb zu übernehmen“ (Hirsch-Kreinsen 2015: 90). In Hinblick auf das angesprochene Prinzip der komplementären Systemauslegung muss es vor allem um eine Schnittstellengestaltung gehen, die die Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems ermöglicht. Dies setzt eine ganzheitliche bzw. kollaborative Perspektive auf die Mensch-Technik-Interaktion voraus, die die spezifischen Stärken und Schwächen von menschlicher Arbeit und technischer Automatisierung identifiziert. Mit den aktuellen Prozessen der Digitalisierung sowie des zunehmenden Einsatzes von autonomen Systemen und KI werden neue Formen der Funktionsverteilung und Interaktion zwischen Technik und Mensch möglich. Studien verweisen auf eine zunehmende Verschränkung und Integration natürlicher und virtueller Realitäten, z.B. durch Datenbrillen, deren Verbreitung in den letzten Jahren deutlich an Fahrt aufnimmt:

„Früher wäre es etwa bei Automobilhersteller undenkbar gewesen, mit Datenbrillen zu arbeiten, jetzt ist ‚alles egal‘ und sie drängeln fast, die entsprechenden digitalen Unterstützungen zu bekommen; das gilt gleichermaßen für die Service-App.“

(InLog)

Schnittstelle Organisation – Mensch

An der Schnittstelle zwischen den Teilsystemen Mensch und Organisation stellen sich Fragen der Gestaltung von Arbeitsorganisationen, der Kontrolle durch Vorgesetzte bzw. des Eröffnens von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen sowie nach weiteren Mechanismen der Beteiligung und Interessenregulation. Die Schnittstelle zwischen Mensch und Organisation bietet unterschiedliche Gestaltungsperspektiven und damit zusammenhängende Modelle der Arbeitsorganisation (Ittermann/Niehaus 2018), die durchaus Widersprüche aufweisen können: So können flexible und dezentrale Teamstrukturen mit eingespielten Funktions- und Kontrollstrukturen kollidieren oder hohe Komplexitätsanforderungen dezentraler Steuerungsformen einer effizienzorientierten Systemgestaltung entgegenstehen. Grundsätzlich ist ein breites Spektrum teilweise sehr unterschiedlicher arbeitsorganisatorischer Muster umsetzbar. Die Aufwertung und Erweiterung von Handlungsspielräumen kann beispielsweise dazu führen, Mitarbeiter:innen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Leistungsvoraussetzungen in demselben Arbeitsbereich einzusetzen (Ulich 2011). Diese Möglichkeit kann einerseits zum gezielten Einsatz von Beschäftigten für bestimmte Tätigkeiten genutzt werden, andererseits sind Rotation und Aufgabenwechsel möglich, durch die Lern- bzw. Qualifizierungsprozesse gefördert werden.

Schnittstelle Technologie – Organisation

An der Schnittstelle zwischen Organisation und Technologie geht es u.a. um Anforderungen der Integration neuer Technologien in existierende Arbeits- und Produktionsabläufe. Dies betrifft nicht allein die Ebene des Shopfloors, sondern auch die Hierarchie der Organisation sowie Funktionsbereiche und Abteilungen im Unternehmen (z.B. Verwaltung, Forschung und Entwicklung). Damit verbunden ist gegebenenfalls eine Neuorganisation von Managementfunktionen in Hinblick auf den Wandel ihrer Entscheidungskompetenzen und die Verantwortungsverlagerung auf nachgeordnete Ebenen. Darüber hinaus beeinflusst der Automatisierungsgrad der Technik die für die Organisationsgestaltung (noch) verfügbaren Funktionen.

An dieser Schnittstelle werden die Widersprüche zwischen organisations- und technologiezentrierten Perspektiven deutlich. Strukturelle Hindernisse der Umsetzung können neben einer unklaren Integration von Technologien in bestehende Organisationskonzepte (z.B. Lean Production) in organisationsstrukturellen Barrieren, einer hohen Komplexität in der überbetrieblichen Arbeitsteilung sowie in datenschutzrechtlichen Problemlagen (Zugriff auf betriebssensible Daten für externe Akteure) bestehen. Darüber hinaus fragen kleinere und mittlere Betriebe, wie die potentiell verfügbaren Technologien wirtschaftlich rentabel und organisatorisch sinnvoll implementiert werden können und ob die finanziellen und personellen Ressourcen ausreichen. Die neuen Bedingungen einer individualisierten Produktion auf der Basis autonomer, selbststeuernder Systeme legen auch in organisatorischer Hinsicht eine dezentrale Steuerung und Intelligenz nahe.

Zugleich wird der Wandel ganzer Wertschöpfungsstrukturen denkbar, der die bisherigen Formen überbetrieblicher Arbeitsteilung und des Outsourcings deutlich verändert. Bei einer weitergehenden Ausdifferenzierung und Öffnung von Produktionsprozessen werden zudem unterschiedliche interne und unternehmensexterne Akteure in den Wertschöpfungsprozess einbezogen. Letztlich bieten sich auf Grund einer zeitlichen und funktionalen Entkopplung bei Industrie-4.0-Systemen weite Spielräume für alternative Formen der Organisation und neue Geschäftsmodelle, beispielsweise in Form hybrider Dienstleistungen von Hardware und Software etwa in der Produktionslogistik, dem Transport oder der Instandhaltung.

Eine Neugestaltung des Miteinanders von Technik, Organisation und Mensch verweist somit u.a. auf die Veränderungen der Tätigkeits- und Aufgabenzuschnitte, neue Vernetzungen mit ihren organisatorischen Folgen oder die sich ergebenden neuen bzw. veränderten Qualifikations- und Kompetenzanforderungen. Obwohl die derzeitigen Digitalisierungs- und Industrie-4.0-Debatten häufig von technikzentrierten Perspektiven dominiert werden, zeigen die Befunde, dass die Dimensionen Organisation und Mensch gleichberechtigte Faktoren für die jeweilige Ausgestaltung betrieblicher Wertschöpfungsprozesse sind. Im Mittelpunkt zahlreicher Arbeiten in der Tradition des soziotechnischen Ansatzes steht folglich eine arbeits- und humanzentrierter Perspektive (Holtgrewe et al. 2015; Deuse et al. 2015; Schaper 2014).

Diese ist „Kern des soziotechnischen Systems und damit im Fokus der menschengerechten Gestaltung von Arbeit“

(DIN/DKE 2015: 60).

Soziotechnisches System und Interaktionsarbeit

Die skizzierten Perspektiven der soziotechnischen Schnittstellengestaltung werden im Folgenden unter dem Leitbild der Guten Interaktionsarbeit weiterentwickelt (vgl. Hirsch-Kreinsen et al. 2018).

Schnittstelle Technologie-Mensch

Für die menschliche Arbeit müssen Transparenz und Kontrollmöglichkeiten über die Produktionsabläufe erhalten bleiben, das vielfach unverzichtbare Erfahrungswissen gesichert bzw. ausgebaut werden und der Arbeitsprozess sinnvolle technische Unterstützung erfährt. Die Mitarbeiter verbleiben „in ihrer Gesamtheit die Träger der planenden, steuernden, dispositiven, ausführenden usw. Tätigkeiten“ (Becker 2015: 25) und übernehmen wichtige Funktionen bei angereicherten Arbeitstätigkeiten. Diese Form der Schnittstellengestaltung führt im Ergebnis dazu, das Aufgabenspektrum der Beschäftigten zu erweitern, den Ansprüchen an herausfordernde, lernförderliche Arbeiten gerecht zu werden und neue Möglichkeiten zur Mitgestaltung und Mitentscheidung zu eröffnen. Die Arbeitssituation ist so durch ein digital erweitertes Aufgabengebiet und neue Anforderungen an qualifizierte Arbeiten gekennzeichnet. Assistenzsysteme sollten von den einzelnen Mitarbeitern an ihre jeweiligen Bedürfnisse und Leistungsdispositionen kontext- oder ortsbasiert angepasst werden können.

Dabei muss es möglich sein, dass die Beschäftigten hinreichende informationstechnische Kompetenzen für die Sicherung und den Ausbau von Erfahrungswissen und Prozesse des Learning on the Job erhalten. Im Kontext einer dynamischen situationsspezifischen Funktionsteilung zwischen Mensch und Maschine spielen sich Entscheidungen in spezifischer Weise stets zwischen der neuen Technik („maschineller Verantwortung“) und dem Menschen („menschlicher Verantwortung“) ein:

„Wir geben Tipps, aber wir sagen jetzt nicht: ‚Bitte den Schraubenzieher in die rechte Hand nehmen, die Schraube drei Mal nach links drehen, Bauteil rausnehmen‘, solche Dinge, weil wenn dem was passiert, sind wir dran. Das können wir natürlich allein aus rechtlichen Gründen nicht verantworten. Aber natürlich können wir zu dem sagen: ‚Okay, Elektrofachkraft, mach den Schaltschrank auf, guck rein, zeige uns das Bild und wir können sagen: ‚Oh, da leuchtet was. Bitte prüft mal, was mit dem Bauteil ist.‘ Solche Dinge. Natürlich muss hier stark auf die Formulierung geachtet werden“.

(Teamleiter Field Service InLog)

In Hinblick auf die Gestaltung der neuen Formen der Interaktion zwischen Maschine und Mensch erweisen sich die folgenden Kriterien als besonders zentral – Kontextsensitivität und Adaptivität sowie Komplementarität:

Kontextsensitivität und Adaptivität: Diese Kriterien umfassen Aspekte einer ergonomischen Anpassung von digitalen Systemen, um durch die situationsspezifische Bereitstellung von Daten und Informationen einen störungsfreien Arbeitsfluss zu sichern bzw. stressauslösende und belastende Unterbrechungen zu vermeiden, die intelligente Anpassungsfähigkeit der Assistenzsysteme an unterschiedliche Qualifikationsniveaus zu erlauben und kontinuierliche Lern- und Qualifizierungsprozesse sowie die Sicherung des Erfahrungswissens zu gewährleisten.

Komplementarität: Zum einen geht es um eine dynamische situationsspezifische Funktionsteilung zwischen Mensch und Maschine und zum anderen um das Schaffen von Transparenz und Kontrollierbarkeit des Systems durch die Beschäftigten. Dazu müssen die digitalen Techniken schnell erlernbar und intuitiv bedienbar sein sowie den situationsspezifischen Zugang zu digitalen Informationen in Echtzeit zur Sicherung von Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten der Beschäftigten eröffnen.

Schnittstelle Organisation-Mensch

Hier lässt sich in einer normativen Perspektive das generelle Ziel fokussieren, Arbeitsaufgaben und Tätigkeitszuschnitte so zu gestalten, dass sie möglichst ganzheitlich sind, Entscheidungsmöglichkeiten eröffnen und Lernmöglichkeiten schaffen für eine nachhaltige Aufwertung von Tätigkeiten und Qualifikationen. Dies ermöglicht sowohl effiziente Formen der >Arbeitsorganisation als auch Arbeitssituationen mit besonderen Qualifikationsanforderungen und unter Umständen hohen Handlungsspielräumen, einem polyvalenten Einsatz der Beschäftigten sowie vielfältigen Möglichkeiten des Learning on the Job. Einschlägige Kompetenzen werden im Prozess selbst erworben oder in Form arbeitsnaher und arbeitsintegrierter Ansätze: Damit angesprochen sind sowohl das individuelle Lernen u.a. durch Jobrotation als auch durch Formen von Lerninseln oder Lernfabriken. Lernförderliche Arbeitsorganisationen und Qualifizierungsstrategien sollten sich an dem heterogenen Erfahrungsstand und den unterschiedlichen Kompetenzbündeln der Beschäftigtengruppen orientieren. Ein zentrales Merkmal ist, dass die Aufgaben selten an einzelne Beschäftigte adressiert werden, vielmehr handelt das Arbeitskollektiv selbstorganisiert, flexibel und situationsbestimmt je nach zu lösenden Problemen des technologischen Systems. Dabei wird der Arbeitsauftrag durch einen vom Management vorgegebenen Handlungsrahmen mit Regeln, Zielen und Leitvorstellungen definiert. Diese Entwicklungen ermöglichen eine Höherqualifizierung oder Requalifizierung von Industriearbeit, die mit „wachsender Eigenverantwortung, vielfältigen Entfaltungsmöglichkeiten für kreatives Arbeitshandeln und einer Steigerung der Arbeits-, Kooperations- und Beteiligungsqualität“ (Kurz 2014: 108) der Beschäftigten verbunden sein kann.

Für die Arbeitsgestaltung und den Personaleinsatz ist ein relativ breites Spektrum von Aufgaben verfügbar. Eine zentrale Frage richtet sich darauf, wie die vorhandenen Bestände von Kompetenzen, Arbeitsvermögen und Erfahrungswissen der Beschäftigten für die Gestaltung von Industrie-4.0-Systemen genutzt werden können.

Ganzheitlichkeit: Dieses Kriterium stellt auf die Vollständigkeit von Tätigkeiten in doppelter Hinsicht ab: Zum einen soll eine Tätigkeit nicht nur ausführende, sondern auch dispositive (organisierende, planende und kontrollierende) Aufgaben umfassen. Für technische Servicebeschäftigte in der Störungsbeseitigung bedeutet das beispielsweise, dass sie bei der Aufnahme der Störung mit dem Kunden, der Planung des weiteren Vorgehens, um das Problem zu lösen, oder bei der späteren Nachfrage beim Kunden nach dem Erfolg selbst mitwirken. Zum anderen zielt es auf eine angemessene, belastungsreduzierende Mischung von mehr oder weniger anspruchsvollen Aufgaben. Darüber hinaus ist Ganzheitlichkeit die zentrale Voraussetzung für hohe Entscheidungs- und Handlungsspielräume sowie die Selbstorganisation von Arbeit. Schließlich werden damit auch die arbeitsorganisatorischen Voraussetzungen für die erwähnten systemgestützten Lern- und kontinuierlichen Qualifizierungsprozesse hergestellt.

Dynamische Arbeitsprozesse: Zum einen geht es um das Schaffen arbeitsorganisatorischer Voraussetzungen für einen systematischen Aufgabenwechsel, um Lernprozesse zu ermöglichen und zu fördern. Aufgrund des hohen Qualifikationsniveaus sind bei technischen Servicebeschäftigten die Potentiale für Aufgaben- und Arbeitsplatzwechsel gegeben: So können etwa in der Projektierung und dem Service die Beschäftigten temporär in den jeweils anderen Geschäftsbereich ‚reinschnuppern‘, um nicht nur selbst Neues zu lernen, sondern auch die Aufgaben und Randbedingungen der betrieblichen Kooperationspartner:innen kennenzulernen und in die eigene Arbeit zu integrieren. Zum zweiten fördern die neuen Social-Media-Funktionen die interdisziplinäre Kommunikation und Kooperation zwischen verschieden spezialisierten Beschäftigten und damit die Steigerung der Innovationsfähigkeit der Arbeit und das Finden neuer Lösungen. Zum dritten sind dynamische und wenig strukturierte Arbeitsprozesse vielfach die Voraussetzung dafür, um angesichts der wachsenden Komplexität von Anlagen und Systemen in unbestimmten und unstrukturierten Situation handlungs- und entscheidungsfähig zu sein und Störungen effektiv beheben zu können. Die Umsetzung dieser Kriterien legt eine Arbeitsorganisation nahe, die als qualifikatorisch aufgewertete, flexibel integrierte Arbeit bezeichnet werden kann. Zugleich humanorientierte als auch effiziente und innovative Arbeit ist organisatorisch durch eine lockere Vernetzung unterschiedlich qualifizierter, aber gleichberechtigt agierender Beschäftigter in horizontaler als auch vertikaler Dimension gekennzeichnet, die weitgehend selbstorganisiert und situationsbestimmt im digitalisierten Arbeits- und Produktionsprozess handeln. Dieses Muster zeichnet sich durch ein hohes Maß an struktureller Offenheit, eine sehr begrenzte Arbeitsteilung, selbstorganisierte Tätigkeiten und hohe Flexibilität aus.

Schnittstelle Technologie-Organisation

Die Schnittstelleist gestaltbar, nicht zwangsläufig technikdeterminiert (vgl. Kärcher 2015) und auch nicht mehr auf traditionelle Grenzziehungen wie Abteilungsgrenzen und Unternehmensstrukturen beschränkt (z.B. BMWi 2013; Spath et al. 2013; Bauernhansl 2014). Als ein wichtiges Gestaltungskriterium sind die dezentralisierten Organisationsstrukturen anzusehen. So stellt in Technischen Services die mitunter geringe Verbundenheit von Mitarbeitenden, die einen Großteil ihrer Arbeitszeit beim Kunden verbringen, zu ihrem ‚Heimat‘-Unternehmen eine deutliche Herausforderung dar:

„Die Mitarbeiter wechseln das T-Shirt zu dem, der den neuen Vertrag bekommen hat.“

(Geschäftsführer RegTec)

Oder:

„Dieser Arbeitgeber wird immer weniger wertgeschätzt.“

(Abteilungsleiter RegTec)

Das drückt aus, dass Mitarbeitende den Bezug zum eigenen Betrieb verlieren können. Hier sind neuartige Möglichkeiten erforderlich, die technisch-organisatorischen, aber auch betriebskulturellen Voraussetzungen für neue Formen flexibel integrierter und innovativer Industriearbeit zu schaffen. In organisatorisch-horizontaler Hinsicht geht es um die flexible Integration unterschiedlich spezialisierter Funktionsbereiche. Schließlich ist die Neuorganisation von Managementfunktionen in Hinblick auf den Wandel ihrer Entscheidungskompetenzen und die Verantwortungsverlagerung auf nachgeordnete Ebenen zu prüfen.

Insgesamt gesehen bietet die soziotechnische Perspektive eine hinreichende Voraussetzung für die ganzheitliche Ausschöpfung der technologischen und ökonomischen Potentiale der Digitalisierung. Dabei werden dem menschlichen Arbeitshandeln lediglich fragmentierte Restfunktionen bei ausgeprägten Kontrollstrukturen überlassen, sondern es werden explizit neue Gestaltungsmöglichkeiten von Interaktionsarbeit betont. Unstrittig ist zudem, dass diese Gestaltungsperspektive von Arbeit die beste Voraussetzung dafür ist, Industriearbeit als anspruchsvolle, belastungsarme und selbstorganisierte „Hightech“-Arbeit für die junge Generation, die vielfach an akademisch ausgerichteten Berufen interessiert ist, wieder attraktiv zu machen.

Literatur

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