Unter den Bedingungen von Digitalisierung, Industrie 4.0 und KI geraten die Schnittstellen von Mensch und Technik in den Fokus. Vorliegende Studien verweisen auf eine zunehmende Verschränkung und Integration natürlicher und virtueller Realitäten, die über traditionelle Konzepte der Mensch-Technik-Interaktion hinausgehen und neue Lösungen erforderlich machen (Geisberger/Broy 2012; Botthof/Hartmann 2015). Zu diesen Lösungen zählen neben der Kollaboration von Mensch und Maschine oder Roboter in der Fertigung auch der Einsatz von Datenbrillen, Tablets, Devices etc. in Produktions-, Service- und Logistikprozessen und die damit verbundene kontextbasierte Informationsbereitstellung, die neue Möglichkeiten z.B. in der Fernwartung ermöglicht. So bietet der Einsatz moderner Methoden der Virtualisierung von Produktionsabläufen Verwendung, die die bisherige räumliche Kopplung von Produktion und Arbeit überwinden. Neben grundsätzlichen Anforderungen der handlungsorientierten Dialoggestaltung (z.B. zur Nutzung eines Assistenzsystems) geht es auch um Frage nach der „verteilten Handlungsträgerschaft“ (Rammert/Schulz-Schaeffer 2002) zwischen dem technologischen Teilsystem und dem menschlichen Arbeitshandeln, m.a.W.: Was entscheidet der Mensch? Was entscheidet die digitale Technik? Denn mit den neuen digitalen Technologien werden neue Formen der Funktionsverteilung und Interaktion zwischen Maschine und Mensch möglich (Weyer 2007). Zudem stellt sich die Frage, „inwieweit die Beschäftigten unmittelbar am System überhaupt in der Lage sind, diese zu kontrollieren und damit die Verantwortung über den Systembetrieb zu übernehmen“ (Hirsch-Kreinsen 2015: 16).
Funktionsteilungen, Handlungsträgerschaften und Kontrolle verweisen auf alternative Ansatzpunkte der Gestaltung der Mensch-Maschine-Schnittstelle: Zum einen geht es um die grundlegende Frage der Substitution von Aufgaben und Tätigkeiten in Folge von Digitalisierungs- und Automatisierungslösungen. Zum anderen treffen unterschiedliche Perspektiven hinsichtlich Aufgaben- und Kontrollverteilung zwischen Mensch und Maschinen aufeinander. So können Assistenzsysteme abwechslungsreichere Arbeit ermöglichen und arbeitsplatznahe Lernprozesse unterstützen, aber auch durch strikte Prozessvorgaben den Handlungsspielraum der Beschäftigten einschränken:
„Werde ich durch dieses Tablet kreativer und komme auf ein neues Niveau der Problemlösung, weil ich andere Werkzeuge, andere Informationen habe, die ich vorher nicht hatte? Oder bekomme ich dauernd irgendwie gesagt, was ich machen muss?“
(Vertreterin Interessenverband)
Mit Blick auf die komplementäre Systemauslegung stellt sich die Frage nach Schnittstellengestaltungen und Mensch-Technik-Interaktionen, die eine zufriedenstellende Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems ermöglichen.
Perspektiven auf die Mensch-Technik-Interaktion
Arbeitszentriertes Szenario
Einer ersten Perspektive liegt ein Verständnis von Mensch-Technik-Interaktionen und Kontroll- und Verantwortungsverteilungen von technischem und personellem System zugrunde, das den Menschen im industriellen Produktionssystem in den Vordergrund rückt (vgl. Grote 2018): Die Fachkräfte lenken als „Dirigenten der Wertschöpfung“ (Bauernhansl 2014: 22) das System und können bei Problemen erfahrungsbasiert und selbstständig eingreifen. Sie behalten die Kontrolle über die digitalisierten Arbeits- und Produktionsabläufe und werden durch Assistenzsysteme und neue Technologien, im Sinne von „Wandlungsbefähigern“ (Kreimeier et al. 2015), flexibel und situationsadäquat digital unterstützt. Dieser Ansatz lässt sich auch als „Spezialisierungsszenario“ oder „Werkzeug-szenario“ bezeichnen (Windelband et al. 2011). Er setzt eine durchweg fachkräfteorientierte Technikauslegung voraus, wie sie insbesondere bei interaktiven Mensch-Roboter-Systemen oder lernförderlichen Assistenzsystemen deutlich werden. Adaptivität als flexible Anpassung von digitalen Systemen an spezifische Arbeitsbedingungen und Belastungen sowie Komplementarität als situationsspezifische Funktionsteilung zwischen Mensch und Maschine sind Schlüsselelemente dieser Interaktion. Ohne Frage sind in einer solchen Perspektive (technische) Hürden zu überwinden, die sich nicht zuletzt in der aufwendigen betriebsspezifischen Anpassung der Systeme an den bereits implementierten Organisationsformen und IT-Infrastrukturen äußert.
Technikzentriertes Szenario
In einer zweiten Perspektive lassen sich die Systeme angesichts der großen technischen Komplexität als weitgehend autonom und selbstständig ablaufende Prozesse beschreiben. Diese Perspektive wird in der einschlägigen Literatur häufig auch als „Automatisierungsszenario“ (Windelband/ Dworschak 2015) bezeichnet. Die Mensch-Maschine-Interaktion ist in diesem Szenario von einem eindeutigen und hierarchischen Abhängigkeitsverhältnis gekennzeichnet: Entscheidungen und Eingriffe am System werden zentral gesteuert und sind allenfalls hochqualifizierten Experten vorbehalten, die in Störfällen das notwendige Wissen aufbringen können. Als dementsprechend groß lässt sich die Abhängigkeit der verbliebenen Beschäftigten in der Produktion von der Technik beschreiben; die Arbeit ist hochgradig fremdbestimmt und bietet minimale Entscheidungs- und Handlungsfreiheiten. Am Beispiel von Leitwarten in der hochautomatisierten Prozessindustrie zeigen sich die weitreichenden Möglichkeiten, technische Systeme von menschlichen Eingriffen unabhängiger zu machen. Mit Selbstdiagnose und Optimierungssystemen ausgestatte Anlagen verfügen über einen so hohen Autonomiegrad, dass z.B. auf die Besetzung von Leitwarten (perspektivisch) verzichtet werden könne. Hier ist von einer Autonomisierung und Modularisierung industrieller Produktionstechnik auszugehen, die in verschiedenen Anwendungskontexten flexibel eingesetzt werden können.
Polarisierungsszenario
In einer dritten Perspektive schließlich zeichnet sich in der Mensch-Maschine-Interaktion eine Polarisierung ab, in der die skizzierten Fachkräfte- und Automatisierungsszenarien miteinander verbunden werden. So sind auf der einen Seite hochqualifizierte Beschäftigten mit der Virtualisierung und „Orchestrierung“ der Systemabläufe sowie der Steuerung der Maschinen beschäftigt, während auf der anderen Seite Geringqualifizierte von hochentwickelten Maschinen angeleitet und in ihrer Arbeit überwacht werden. Offen bleibt in dieser Entwicklungsperspektive der Umgang mit dem zunehmenden Verlust von Kompetenzen und Erfahrungen der operativen Beschäftigten in der Interaktion mit Technik, die sich vor allem bei Unwägbarkeiten und Störungssituationen äußert, in denen ein auf Intuition und Gefühl basierendes Arbeitshandeln besonders notwendig wird (Bainbridge 1983; Böhle 2017).
Ganzheitliche Schnittstellengestaltung
Eine ganzheitliche bzw. kollaborative Perspektive auf die Mensch-Maschine-Interaktion folgt der Überlegung, die spezifischen Stärken und Schwächen von menschlicher Arbeit und technischer Automatisierung zu identifizieren und diese Informationen zur Optimierung des Systems zu nutzen (Grote 2018). Zentral ist dabei, dass menschliche Arbeit Transparenz und Kontrollmöglichkeiten über die Produktionsabläufe erhält bzw. behält, das vielfach unverzichtbare Erfahrungswissen erhalten bzw. ausgebaut werden kann und dabei durch intelligente Assistenzsysteme unterstützt wird. Die Mitarbeiter verbleiben „in ihrer Gesamtheit die Träger der planenden, steuernden, dispositiven, ausführenden usw. Tätigkeiten“ (Becker 2015: 25) und übernehmen wichtige Funktionen bei angereicherten Arbeitstätigkeiten.
Diese Form der Schnittstellengestaltung führt im Ergebnis dazu, das Aufgabenspektrum der Beschäftigten zu erweitern, den Ansprüchen an herausfordernde, lernförderliche Arbeiten gerecht zu werden und neue Möglichkeiten zur Mitgestaltung und Mitentscheidung zu eröffnen. Die Arbeitssituation ist durch ein digital erweitertes Aufgabengebiet und neue Anforderungen an qualifizierte Arbeiten gekennzeichnet. Assistenzsysteme sollten von den einzelnen Mitarbeitern an ihre jeweiligen Bedürfnisse und Leistungsdispositionen kontext- oder ortsbasiert angepasst werden können. Dabei muss es vor allem auch möglich sein, dass die Beschäftigten hinreichende informationstechnische Möglichkeiten für die Sicherung und den Ausbau von Erfahrungswissen und Prozessen des „learning-on-the-job“ erhalten.
Die empirisch vorfindbaren Gestaltungsbeispiele relativieren die Sichtweise von einem mehr oder weniger deterministischen Mensch-Technik-Verhältnis. In der Praxis lassen sich mit Blick auf die vorgestellten Beispiele zahlreiche Hybridformen erwarten, die den jeweiligen Anforderungen der Arbeits- und Produktionsabläufe entsprechen. Um die Gestaltungsmöglichkeiten für gute Interaktionsarbeit auch in diesem Sinne zu nutzen, ist die Perspektive einer anspruchsvollen, belastungsarmen, lernförderlichen, selbstorganisierten und partizipationsorientierten Tätigkeit erforderlich. In Technischen Services kann diese die Attraktivität des Tätigkeitsfeldes erhöhen und die Probleme des aktuellen Fachkräftemangels verringern.
Literatur
Bainbridge, L. (1983): Ironies of Automation. In: Automatica, Vol. 19 (1983), No. 6, S. 775-779.
Bauernhansl, T. (2014): Die Vierte Industrielle Revolution – Der Weg in ein wertschaffendes Produktionsparadigma. In: T. Bauernhansl, M. ten Hompel, B. Vogel-Heuser (Hrsg.): Industrie 4.0 in Produktion, Automatisierung und Logistik. Wiesbaden, S. 5–36.
Becker, K.-D. (2015): Arbeit in der Industrie 4.0 – Erwartungen des Instituts für angewandte Arbeitswissenschaft e.V. In: A. Botthof, E. A. Hartmann (Hrsg.): Zukunft der Arbeit in Industrie 4.0. Berlin/Heidelberg, S. 23–30.
Botthof, A.; Hartmann, E. A. (2015): Zukunft der Arbeit in Industrie 4.0 – Neue Perspektiven und offene Fragen. In: A. Botthof, E. A. Hartmann (Hrsg.): Zukunft der Arbeit in Industrie 4.0. Berlin/Heidelberg, S. 161– 163.
Böhle, F. (2017): Digitalisierung braucht Erfahrungswissen. In: DENK-doch-MAL.de, Nr. 01 (2017). Frankfurt/M.
Geisberger, E.; Broy, M. (2012): agendaCPS. Integrierte Forschungsagenda Cyber-Physical Systems. Heidelberg
Goos M, Manning A (2007) Lousy and lovely jobs: The rising polarization of work in Britain.
Hirsch-Kreinsen, H.( 2015): Digitalisierung von Arbeit: Folgen, Grenzen und Perspektiven. Soziologisches Arbeitspapier Nr. 43. Dortmund.
Kreimeier, D.; Kreggenfeld, N.; Prinz, C. (2015): Das Verhältnis von Technik, Arbeit und Organisation im Wandel. In: L. Pries, H.-J. Urban, M. Wannöffel (Hrsg.): Wissenschaft und Arbeitswelt – eine Kooperation im Wandel. Baden-Baden, S. 169-186.
Weyer, J. (2007): Autonomie und Kontrolle. Arbeit in hybriden Systemen am Beispiel Luftfahrt. In: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis, Jg. 16 (2007), H. 2, S. 35-42. Windelband, L.; Dworschak, B. (2015): Arbeit und Kompetenzen in der Industrie 4.0. Anwendungsszenarien Instandhaltung und Leichtbaurobotik. In: H. Hirsch-Kreinsen, P. Ittermann, J. Niehaus (Hrsg.): Digitalisierung industrieller Arbeit. Baden-Baden, S. 71–86